Die weißen Pferde der Camargue (Rainer Möldgen, Pulheim)
Im Süden Frankreichs, in der Camargue, jener mythischen Landschaft im Rhonedelta, liegt die Heimat des Camargue-Pferdes. Dort lebt es seit Jahrhunderten ungestört von menschlichen Einflüssen unter härtesten Bedingungen in sog. "halbwilden" Herden auf. Nur Hengste und Wallache werden geritten und dienen dem Gardian bei der Arbeit in der Stierherde oder festlichen Anlässen...
So oder ähnlich beginnen fast alle Artikel über Camargue-Pferde und sind dem versierten Freizeitreiter und Pferdkenner längst bekannt und in Fleisch und Blut übergangen, obwohl sie bei genauerer Betrachtung nur eine sehr vereinfachte Darstellung der Entwicklung des Camargue-Pferdes bzw. der Camargue-Pferdezucht wiedergeben.
Der folgende Beitrag hat sich deshalb zur Aufgabe gemacht, dieses kritisch zu hinterfragen, näher auf die Geschichte der Camargue-Zucht einzugehen und einen Blick über den Zaun heutiger Camargue-Züchter in Frankreich zu gestatten.
Es ist nun keineswegs so, daß die Camargue-Pferde ungestört von menschlichen Einflüssen aufwachsen konnten. Mit konstanter Regelmäßigkeit findet man in der Geschichtsschreibung seit Cäsar Hinweise auf teilweise massivste Einflußnahme durch den Menschen, sei es durch Ankauf der Pferde zu Kriegszwecken, oder Einkreuzungsversuche mit Berberhengsten oder Hengsten anderer Rassen.
Dies läßt den Schluß zu, daß zumindest zeitweilig seit ca. 2000 Jahren in der Camargue Zuchtwahl durch den Menschen erfolgte. Das Zuchtkonzept bestand wahrscheinlich darin, durch Einkreuzung von Fremdblut, Kriegsverwendungsfähigkeit bzw. Rittigkeit unter Beibehaltung von Robustheit, Härte und Ausdauer zu erhalten.
Wie läßt es sich nun glaubhaft erklären, daß trotz dieser Einflußnahme Camargue-Pferde heute ein nahezu homogenes Erscheinungsbild als ursprüngliche Robustpferderasse vermitteln?
Die Fachwelt ist sich mittlerweile einig darüber, daß immer dann, wenn der Einfluß des Menschen geringer wurde, die Pferde also für eine gewisse Zeit "in Ruhe gelassen wurden", die überlebensnotwendigen Eigenschaften dieser Robustpferderasse durch Naturauslese wieder zurückgewonnen wurden. Dieses "Ausschwitzen" von Fremdblut in nur wenigen Generationen ist für Camargue-Pferde und bestimmt auch für andere alte Pferderassen typisch.
Zudem dürfte immer eine kleine Population reinblütiger Camargue-Pferde, tief in den Sümpfen versteckt, als genetische Reserve übriggeblieben sein.
In diesem Zusammenhang darf eine Person nicht unerwähnt bleiben, die sich in einer Zeit der Degeneration der Camargue-Rasse durch Fremdblut für die Reinzucht der alten Blutlinien einsetzte, der Marquis Folco de Baroncelli-Javon (1869-1943). Ihm und anderen Gleichgesinnten verdankt die Camargue nicht nur einen wichtigen Beitrag zur Rettung der Rasse, sondern auch die Stärkung des Selbstbewußtseins durch das Wiederaufleben der in Vergessenheit geratenen alten provençalischen Traditionen um Stier, Pferd und Mensch.
Er gründete die Gardian - Vereinigung "Nacioun Gardiano" und war maßgeblich an der Wiedereinführung der provençalischen Trachten und der Gardian-Kleidung beteiligt.
Zehn Jahre nach Ende des ersten Weltkrieges trat ein Ereignis ein, daß die Camargue-Zucht bis heute nachhaltig beeinflußt hat, nämlich die Abschaffung der staatlichen Deckstellen, in denen mit Camargue-Stuten und Fremdhengsten Armee-pferde gezüchtet wurden.
Seitdem konnten die Züchter in der Camargue ohne übergeordnete Zuchtkontrolle ihr Zuchtziel selbst bestimmen. Einige Züchter, darunter der Marquis, versteiften sich auf die Reinzucht der alten Blutlinien, deren Nachzucht ausgesprochen robust, klein und mit typischen Camargue - Schädeln versehen war. Andere Züchter mußten das nehmen, was ihnen der Staat gelassen hatte, meist Kreuzungen mit mehr oder weniger Fremdblut. Bei beiden Züchtergruppen gab es jedoch kein Zweifel über das anzustrebende Zuchtziel, das perfekte Stierpferd, ohne das die Arbeit in der Stierherde unmöglich war. Der Bedarf war schnell gedeckt und da die Freizeitreiterei noch nicht die heutigen Ausmaße hatte, wanderten die Nachzuchten zum einen in die Fleischfabriken zum anderen zurück in die Herden, wo sie über einen Zeitraum von ca. 50 Jahren einer harten Naturselektion unterworfen wurden. Aus dieser Zeit, die wiederum zum "Ausschwitzen" des Fremdblutes genutzt wurde, stammen die meisten Geschichten über legendäre Camargue-Pferde, wie sie z. B. in Henri Aubanels Buch "Die weißen Pferde der Camargue" beschrieben wurden. Zahlenmäßig betrachtet darf man sich keinen Illusionen hingeben, man schätzte in den sechziger Jahren das Zuchtmaterial auf nur 600 Tiere.
Mit beginnendem Wohlstand in Europa veränderte sich auch das Gesicht der Camargue. Zum einen veränderte sich die Organisationsform der Landwirtschaft dergestalt, daß der Wein- und Reisanbau durch Bodenmelioration tiefer in die Camargue vordrang, zum anderen besuchten jetzt Touristen in Scharen das Inseldreieck. Für die Camargue-Pferde wurde der Lebensraum durch den Verlust von Schilfgebieten kleiner und man sollte annehmen, daß es mit der Rasse allmählich zu Ende gehen würde.
Dies war aber erstaunlicherweise nicht der Fall. Die Touristen, nicht mehr nur die Naturliebhaber der ersten Stunde, sondern immer mehr Freizeitkonsumenten im heutigen Sinne, fanden Gefallen an der provençalischen Tradition, vor allem an dem unblutig verlaufenden Stierkampf, dem Course camarguaise. Und damit begann auch eine erneute Nachfrage nach Stierpferden, einmal für den Eigenbedarf in der Herde beim Brennen, beim Aussortieren, beim Verladen, usw, dann für die Abrivados, dem Treiben der Stiere vom Lastwagen durch die Straßen der Stadt bis zur Arena, für Gardian-Spiele zu Pferd, für Prozession, eben für alle die Sitten und Gebräuche, die früher im bescheidenen Rahmen durchgeführt wurden, sich heute aber eines riesigen Booms erfreuen dürfen. Viele Amateur-Gardians, die den Manadiers bei ihrer Arbeit halfen, favorisierten beim Kauf von Camargue-Pferden jene, die, wie man in Frankreich sagen würde, "fort" und "costaud" (stark und stämmig) waren und damit wurde wieder der zweigleisige Weg der Zucht beschritten, nämlich Erhalt der Reinblütigkeit und Förderung der Gebrauchsfähigkeit.
Jeder Züchter führte zwar für sich selbst ein Zuchtbuch, doch eine staatliche Zuchtkontrolle durch das Landwirtschaftsministerium und die Nationalgestüte gab es nicht, zumal die Rasse als solche nicht anerkannt war.
In mühevoller Kleinarbeit gelang es der Züchtervereinigung des Camargue-Pferdes (A.E.C.R.C.), der Naturschutzbehörde (Parc Naturel Régionale de Camargue) und dem staatlichen Gestütswesen (Servis des Haras), vertreten durch das 1972 gegründete Nationalgestüt Uzès, die Grundlagen für die Aufnahme von Zuchtmaterial in das neu einzurichtendes Stud-Book Du Camargue festzulegen und damit das Camargue-Pferd als eigenständige Rasse zu definieren.
Diese Angelegenheit war und ist allerdings von so hoher Brisanz, daß sie an dieser Stelle detaillierter ausgeführt werden muß.
Man war sich einig darüber, daß die durch die moderne Landwirtschaft zurückgedrängten Schilfgebiete für eine Naturselektion zu klein geworden sind und deshalb eine Zuchtwahl durch das staatliche Gestütswesen erfolgen sollte. Uneinig war man sich aber über die Erstaufnahme der Stuten und Hengste in das Stud-Book,da der Standard des Camargue-Pferdes nun definiert war, und kein Züchter es verschmerzt hätte, wenn seine Stuten wegen anscheinend zu hohem Fremdblutanteile und Abweichungen vom Standard einer Vorauswahl zum Opfer gefallen wäre. Deshalb wurde auf eine Vorauswahl verzichtet, und die Züchter konnten alle ihre Stuten, die einigermaßen im "Typ Camargue" standen unter der Bezeichnung OI. TC (Abstammung unbekannt, Typ Camargue) eintragen lassen. Schimmelfarbe und ein dem Standard einigermaßen entsprechendes Erscheinungsbild waren die wesentlichen Kriterien.
Erst die Nachkommen dieser eingetragenen Stuten konnten die Bezeichnung "Camargue" tragen und damit als die ersten Vertreter ihre Rasse gelten.
Um die Vatertiere zu bestimmen, wurde 1977 die erste Hengstkörung vorgenommen, und die ersten 19 Hengste wurden aktiv. Darunter die bekannten Hengste Droulas (Bruno), der Gitan-Sohn Félibre (Jalabert), Galoubet (Guillierme), Hardi (Bounias), Peùce (Yonnet), Loupiot (Ceccarini), um nur einige zu nennen.
1978 war demnach das Geburtsjahr der "Race du cheval Camargue". Die ersten gekörten Hengste dieses Jahres und damit die ersten mit der Rassebezeichnung "Camargue" waren Maestro (Jalabert), Majourau (Ceccarini), Moiros (Roche), Morvan (Yonnet), Mounla Du Matin (Allard) und Mars (Yonnet).
Bis zur Schließung des Stud-Book, die für das Jahr 1990 vorgesehen war, konnten die Züchter ihre OI.TC.-Reserve weiterhin eintragen lassen, eine ausreichend lange Zeit, in der die Camarguaisen ihr Mißtrauen gegenüber der staatlichen Zuchtkontrolle abbauen konnten, zumal sich zeigte, daß Camargue-Pferde mit Papieren einen höheren Marktwert erzielten als solche ohne.
Herausragende Hengste der achtziger Jahre waren und sind es teilweise noch heute neben den bereits erwähnten Indien de Listel (CSM), Kaulin (Yonnet), Lou Tau (Jalabert) und Guincho Luno (Gleize), deren Nachzuchten heute die Siegerlisten füllen.
An dieser Stelle sollte man die kleineren, aber ebenso engagierten Züchter nicht vergessen, die ebenfalls qualitativ hochwertiges Zuchtmaterial besitzen.
Stellvertretend für alle anderen seien hier die Zuchten J.-L. Plo, Ph. Michel und J. Luhring erwähnt, die mit besten Hengsten (Tadorne, Quampino und Tanpis du Mas) beachtliche Erfolge erzielten und weiterhin zu beachten sind.
Am Beispiel der Manaden Jalabert und Puget & Fils sollen die Probleme, die die staatliche Zuchtkontrolle für die alteingesessenen Züchter mit sich brachte, angesprochen werden.
Wie alle anderen Züchter hatten die Jalaberts in der Zeit ohne staatliche Zuchtkontrolle ihren "cocktail maison", d. h. ihre eigene Zuchtzieldefinition und die entsprechenden Pferde dazu. Legendäre Pferde waren es, z. B. Gitan, der mehrfach in Arles und Paris prämierte Hengst und Félibre, sein Sohn, die beide dem rustikalen Typ (leicht ramsnäsiger "Camargue-Schädel", üppige Behaarung) mit viel Temperament entsprachen bzw. entsprechen. Eine zweite Linie, die mehr auf die Eignung unter dem Sattel und Gefügigkeit hin gezüchtet wurde, wurde bzw. wird durch Mistral und Lou Tau vertreten. Auch hier lag also die typische Zweigleisigkeit der Camargue-Zucht in Frankreich vor. Wie Marc Jalabert in einem Interview für die Afficinado-Zeitschrift "La Bouvino" 1987 mitteilte, hat er dank des Pferdematerials seiner Familie nun die Möglichkeit, beide Linien bzgl. des Standards so zu kombinieren, daß Rittigkeit und Ursprünglichkeit erhalten bleiben. Wie Marc Jalabert dieses verwirklicht, läßt sich im Stud-Book du Camargue, Band II, leicht nachlesen.
In der kaum 5 km entfernten Manade Puget & Fils liegen die Probleme anders. Bekannt durch ihre Cocardiers (Stiere für den provençalischen Stierkampf), die im Sommer nahezu jeden Sonntag in eine andere Arena transportiert werden müssen, brauchte die Zuchtgemeinschaft Puget-Fabre-Mailhan vor allen Dingen Stierpferde. Damit stand das Zuchtziel fest, Gebrauchspferde mit viel "Biß am Stier" wie sich Jaques Mailhan auszudrücken pflegte, also eine interieurbetonte Selektion. Und da Gebrauchspferde immer ein nahezu perfektes Gebäude haben sollten, wenn sie ihre Arbeit ohne unnötige Verschleißerscheinungen über einen längeren Zeitraum verrichten sollen, konnten sich seine Pferde immer wieder in die Siegerlisten bei der Hengstkörung eintragen lassen. So der Mars-Sohn Urus de Gageron, der 1990 und 1991 Sieger in seiner Klasse war.
Jetzt - nach der Schließung des Stud-Book - muß die Zukunft zeigen, wohin die Rasse geht, die mit 164 Hengsten und 954 Stuten gegründet wurde und deren Selektion nicht mehr durch die Natur, sondern durch Menschenhand erfolgen wird.
Um die positive Wirkung der Natur nicht gänzlich auszuschließen (wirtschaftliche Aspekte mögen auch eine Rolle gespielt haben), haben die zuständigen Behörden und Verbände folgende Regelung getroffen:
Die Rassebezeichnung "Camargue" wird nur dann vergeben, wenn die Nachzucht der eingetragenen Pferde in der "Wiege der Rasse", d. h. in der Camargue und angrenzenden Gebieten mit camargueähnlichem Charakter geboren und in einer Manade - mindestens 4 Stuten auf 20 ha extensiv bewirtschaftetem Weideland - aufgewachsen sind.
Die außerhalb der "Wiege" geborenen Pferde erhalten die Bezeichnung "Camargue Hors Berceau", allerdings nur dann, wenn der Vater ein gekörter Hengst mit der Rassebezeichnung "Camargue" ist, also in der "Wiege" geboren und aufgewachsen ist.
Für viele Camargue-Pferdezüchter, die knapp außerhalb der "Wiege" ihre Pferde auf meist ebenso kargen Weiden halten, bedeutete diese Regelung eine herbe Enttäuschung. Aber es ist ja nicht nur die Extensivhaltung und -fütterung, die dieser Regelung Pate stand.
Ein ebenso wichtiger Grund für diese Maßnahme ist der Erhalt eines Interieurmerkmals, dessen Selektion nur in der "Wiege" erfolgen kann, die Eignung für die Stierarbeit.
Dadurch, daß die Hors Berceau - Züchter nun gezwungen werden, ständig neue Hengste aus der Camargue in ihr Zuchtkonzept zu übernehmen, kann diese wesentliche Eigenschaft des Camargue-Pferdes in jedem Zuchtgebiet erhalten bleiben, ansonsten läge nach wenigen Generationen ein wahrscheinlich nach Reitpferdepoints selektioniertes, weißes Robustpferd vor, das mit dem Namensvetter aus dem Ursprungsgebiet nur noch das äußere Erscheinungsbild gemeinsam hat.